Die aktuelle Kolumne

Syriens neuer Gesellschaftsvertrag

Deutschlands Beitrag zu Syriens Wiederaufbau durch Dezentralisierung

Abedtalas, Musallam / Jan Mohammad / Tina Zintl
Die aktuelle Kolumne (2025)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 02.06.2025

Bonn, 02. Juni 2025. Wiederaufbau nach Konflikten muss über Infrastruktur hinausgehen und das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Staat wiederherstellen. Dezentrale Verwaltung mit lokaler Kontrolle über Finanzen und Dienstleistungen kann die Reaktionsfähigkeit, Legitimität und langfristige Stabilität fördern. Besonders in fragilen Kontexten wie Syrien könnte lokale Selbstverwaltung die staatliche Leistungsfähigkeit und das Vertrauen in die Institutionen stärken. Der Weg dorthin ist jedoch lang und eine inklusive Ordnung erfordert Zugeständnisse auf zentraler wie lokaler Ebene. Dank seiner Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg, der Wiedervereinigung und seines föderalen Systems kann Deutschland eine strategische Rolle beim Wiederaufbau Syriens spielen und zu einer inklusiven Entwicklung durch Dezentralisierung beitragen.


Nach 1945 war der Marshallplan in Westdeutschland Katalysator für einen Strukturwandel durch soziale Marktwirtschaft. Beruhend auf Dezentralisierung und institutionellen Reformen legte dieses Modell den Grundstein für eine inklusive Entwicklung. Starke Institutionen auf Bundes- und Landesebene ermöglichten es Deutschland, nach der Wiedervereinigung 1990 eine flexible Integrationsstrategie für die neuen Bundesländer umzusetzen, mit Fokus auf lokale Entwicklung und nachhaltige Finanztransfers durch föderale Mechanismen. Dieser Ansatz zeigt die Vorteile von Dezentralisierung, wenn sie in eine gut konzipierte Mehrebenen-Governance eingebettet ist. 


In Syrien hat der blutige Bürgerkrieg auch die Stärken lokaler Gemeinschaften in Gebieten außerhalb der staatlichen Kontrolle offenbart. Schon früh boten Lokale Koordinationskomitees (LCCs) staatliche Dienstleistungen an, was ironischerweise an Syriens nicht umgesetztes Dekret 107 von 2011 erinnert. Ab 2014 zeigte die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES), dass lokale Selbstverwaltung durch gewählte Räte und integrative Entscheidungsfindung trotz aller Herausforderungen möglich ist. Sie bietet damit ein praktisches Modell für eine Nachkriegs-Dezentralisierung


Natürlich unterscheidet sich die aktuelle Situation in Syrien sehr von Nachkriegsdeutschland, und die Wiedervereinigung baute auf wesentlich stabileren politischen Verhältnissen in Ost und West, war aber mit ihren eigenen Schwierigkeiten behaftet. So ist der Lebensstandard im Osten immer noch niedriger und die soziopolitischen Gräben wurden nicht vollständig überwunden. Dennoch kann Deutschland seine Dezentralisierungserfahrung einbringen und in Syrien als strategischer Partner und nicht nur als Geber auftreten. Dort hat die zentralistische Herrschaft die staatlichen Institutionen ausgehöhlt und jahrzehntelang eine Teile-und-herrsche-Taktik angewandt. Der Bürgerkrieg hat das Land weiter fragmentiert, wie die Massaker in der alawitischen Küstenregion, die Gewalt im drusisch dominierten Süden und die anti-kurdische Offensive der Türkei im Nordosten zeigten. Das neue Syrien sollte die Fehler der Vergangenheit vermeiden, denn Zentralismus und Fragmentierung bergen die Gefahr erneuter Gewalt.


Dezentralisierung kann Integration statt Fragmentierung bewirken, wenn zentrale und lokale Regierungen zusammenarbeiten und die Grenzen ihrer jeweiligen Mandate kennen. Die Zentralregierung sollte Dezentralisierung nicht als Zugeständnis sehen, sondern als notwendigen Schritt, um Missstände zu beseitigen, die schon vor dem Konflikt zu Syriens Fragilität beitrugen. Das in Deutschland geltende Subsidiaritätsprinzip könnte ein Vorbild für Syrien sein: Entscheidungen werden auf der niedrigsten institutionellen Ebene getroffen, die unmittelbar davon betroffen ist. Lokale Regierungen wiederum müssen einsehen, dass bestimmte staatliche Aufgaben der souveränen Zentralregierung vorbehalten sind, wie etwa Verteidigung, internationale Vertretung oder Währungspolitik. Ein solider Gesellschaftsvertrag erfordert klare Zuständigkeiten und fiskalische Autonomie eindeutig zwischen zentralen und lokalen Behörden, um den lokalen Bedürfnissen gerecht zu werden. 


Deutschland kann mit seinen Förderinstrumenten eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau Syriens spielen. Institutionen wie GIZ und KfW sind in der Lage, auch in konfliktbetroffenen Kommunen und eingeschränkten zivilgesellschaftlichen Räumen zu unterstützen. Darüber hinaus sind Organisationen wie die Humboldt-Stiftung und der DAAD mit syrischen Alumni eng vernetzt. Dass Deutschland syrische Geflüchtete aufgenommen hat, stellt zudem eine einzigartige Brücke zu syrischen Gemeinden dar. Deutschland sollte daher nicht nur technische Hilfe leisten, sondern auch mit lokalen und Diaspora-Initiativen zusammenarbeiten, um den Aufbau von Institutionen und einen echten intersyrischen Dialog zu fördern. Die deutsch-syrische Zusammenarbeit bietet die Chance für einen bedarfsorientierten, partizipativen Wiederaufbau, der Lebenswirklichkeiten vor Ort widerspiegelt. 


Deutschland kann seine Erfahrungen, starken Institutionen, Entwicklungskapazitäten und moralische Glaubwürdigkeit nutzen, um ein dezentralisiertes Regierungssystem im neuen Syrien zu verankern. Es sollte lokale Akteure stärken, nicht überkommene Strukturen: Der Wiederaufbau muss zu einer inklusiveren Ordnung führen und nicht zum alten zentralistischen Modell, das von Spaltung und Misstrauen geprägt ist. Dezentralisierung kann die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft stärken und den syrischen Gesellschaftsvertrag in Richtung Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit prägen – schließlich wünschen das die Syrer*innen selbst.


 

Musallam Abedtalas ist Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme am German Institute of Development and Sustainability (IDOS).

Jan Mohammad ist ein kurdisch-dänischer Forscher im Bereich der internationalen Betriebswirtschaft, mit Schwerpunkt auf wirtschaftlicher Governance und der politischen Ökonomie Syriens.

Tina Zintl ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme am German Institute of Development and Sustainability (IDOS).

 

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