Die aktuelle Kolumne
Die Idee von der „illiberalen Demokratie“ kontern
Warum Demokratie eine Erzählung des politischen Liberalismus braucht
Nowack, DanielDie aktuelle Kolumne (2025)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 05.05.2025
Bonn, 5. Mai 2025. Wenn in diesen Tagen Friedrich Merz als Kanzler vereidigt wird und die neue deutsche Regierung die Geschäfte aufnimmt, wird sie sich einer Welt gegenübersehen, in der um die Deutungshoheit gerungen wird, was eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung ausmacht. In diesem Ringen verbreiten Populisten die Idee von einer neuen Art von Demokratie, der „illiberalen Demokratie“. Wie konnte es zu diesem Ringen um Deutungshoheit kommen – und was brauchen liberale Demokratien wie Deutschland, um sie zurückzugewinnen?
Das Fehlen einer Erzählung liberaler Demokratie
Das Erstarken illiberaler und populistischer Akteure und die Krise liberaler Demokratien lassen sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Einer der Gründe mag jedoch sein, dass es liberal-demokratische Gesellschaften verpasst haben, normative Erzählungen über liberale Demokratie zu finden, die es schaffen, Menschen mitzureißen und zu inspirieren. So konnte ein Kampf um die Deutungshoheit entstehen, denn liberal-demokratische Gesellschaften füllten diese nie ganz mit ihren eigenen Erzählungen aus. Dass solche Erzählungen wirkmächtig sein können, steht außer Frage, wenn man sich beispielsweise vor Augen führt, dass Donald Trumps MAGA-Kampagne an eine über Generationen tradierte Erzählung über den amerikanischen Exzeptionalismus anknüpft.
Um zu erkennen, wieso liberale Demokratien ihren eigenen narrativen Raum nicht füllten, muss zunächst festgehalten werden, dass Liberalismus und Demokratie ursprünglich nicht gleichzusetzen sind. Liberalismus setzt sich zusammen aus mehreren Unterströmungen, deren gemeinsame Schnittmenge jedoch der Schutz der Freiheit des Individuums sowie gesellschaftliche Fairness und Toleranz sind. Demgegenüber ist Demokratie zunächst ein politisches System, bei dem die Regierung durch die Bevölkerung bestimmt wird. Es dauerte 300 Jahre, bis Liberalismus und Demokratie zur „liberalen Demokratie“ verschmolzen. In dieser schützen Gewaltenteilung, politische Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit die Freiheit aller Einzelnen vor der Macht der Regierung und der Tyrannei der Mehrheit. Mit dieser Verschmelzung ging jedoch gleichsam eine Aushöhlung liberaler Werte einher.
Zu dieser Diagnose gelangt der Politikwissenschaftler Alexander Lefebvre. Er konstatiert, dass liberalen Werten unweigerlich eine Aushöhlung widerfahren musste je „massentauglicher“ sie wurden. Liberale Werte, wie sie heute gelebt werden, seien eine Art „Liberalismus light“: ein fauler Kompromiss zwischen Liberalismus und anderen Ideologien bei gleichzeitiger Absenkung liberaler Standards. Kapitalismus beispielsweise pervertiert liberale Werte gesellschaftlichen Ausgleichs, indem er Wohlhabende bevor- und Nicht-Wohlhabende benachteiligt. Zurück blieb eine Leerstelle über die Bedeutung der Demokratie liberaler Machart.
Der normative Appeal liberaler Demokratie
In diese Lücke stoßen nun politische Akteure, die behaupten, eine neue Form von Demokratie etablieren zu wollen, die „illiberale Demokratie“. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Victor Orbán den Umbau der ungarischen Demokratie als Transformation zu einer „christlichen Demokratie“ behauptet. Oder wenn die Trump-Administration die US-Judikative in die politische Unterwerfung zwingen will, um politische Macht ungehindert ausbauen zu können. Illiberale Demokratien drohen jedoch leicht in autoritäre Systeme hinabzugleiten, denn in ihnen wird die Ausübung politischer Macht kaum von anderen Instanzen eingehegt. Deswegen ist eine wiederbelebte Erzählung dessen, was liberale Demokratie ausmacht, für den Schutz und das Fortbestehen von Demokratie allgemein und weltweit von Bedeutung. Dabei wird es darauf ankommen, sich den normativen Appeal von liberaler Demokratie wieder zu eigen zu machen.
Dieser besteht darin, dass Individuen in nicht-liberalen Gesellschaften stets der vorherrschenden Mehrheitsdoktrin, ob religiös oder anderweitig, unterworfen sind. Liberale Demokratie jedoch ermöglicht eine Gesellschaft, in der die Vielfalt menschlicher Erfahrungen, der Lebenswege und -entwürfe möglich ist, ohne befürchten zu müssen, hierfür sozialen, ökonomischen oder politischen Repressionen ausgesetzt zu sein. Von allen politischen Systemen, die wir kennen, ist die liberale Demokratie das eine System, das dem Gedankenexperiment des liberalen Philosophen John Rawls vom „Schleier des Nichtwissens“ am nächsten kommt. In diesem müssen die zukünftigen Mitglieder einer Gesellschaft eine gesellschaftliche Ordnung bestimmen. Allerdings wissen sie nicht, welche Position sie in dieser Gesellschaft einnehmen würden – und so ist die beste Ordnung diejenige, in der alle vor der Willkür der anderen geschützt sind.
Anfang des Jahres hielt Friedrich Merz auf dem Global Leaders Dialogue der Körber-Stiftung eine außenpolitische Grundsatzrede. Er sprach dort davon, dass die Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit einer neuen Bundesregierung die „Achse der Autokratien“ zurückdrängen müsse. Er blieb es schuldig zu sagen, wie genau eine von ihm geführte Bundesregierung dies angehen wird. Fest steht, dass dies nur gelingen kann, wenn Klarheit darüber besteht, was zu verteidigen gilt: die Errungenschaften nicht irgendeiner Art von Demokratie, sondern liberaler Demokratie – die Kontrolle politischer Macht, um gegenseitige Freiheit, Fairness und Toleranz zu schützen.