Aufbruch im Frühling, Demokratie im Herbst? Warum Islam und Demokratie vereinbar sind

Aufbruch im Frühling, Demokratie im Herbst? Warum Islam und Demokratie vereinbar sind

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Leininger, Julia
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 31.10.2011 )

Bonn, 31.10.2011. Viele Menschen sind der Meinung, dass Islam und Demokratie so gut zusammen passen wie Feuer und Wasser: nämlich gar nicht. Oder zumindest nur bedingt. So sorgt sich die deutsche Öffentlichkeit derzeit über die Rolle religiöser Parteien nach dem arabischen Frühling. Wie moderat ist die islamische Ennahda-Partei in Tunesien wirklich? Wie ist es unter ihrer Ägide um die Trennung zwischen Religion und Staat bestellt? Droht die Ennahda das demokratische Pflänzlein Tunesiens nach der Wahl etwa im Keim zu ersticken? Neues birgt Unsicherheit. Skepsis und Angst sind daher verständlich. Und doch wundert es, dass vor allem Skepsis gegenüber der Religion besteht. Ausgerechnet in Deutschland, schließlich ist die Regierungspartei „christlich“ und das Grundgesetz verpflichtet sich in seiner Präambel der Verantwortung vor Gott. Nun mag der Leser einwenden, dass das mit dem Islam ja ganz anders sei als mit dem Christentum. Doch dabei handelt es sich um einen von drei landläufigen Irrtümern in der öffentlichen Debatte um Religion und Demokratie. Weder ist der Islam per se inkompatibel mit Demokratie, noch ist das Christentum in jedem Fall die bessere Alternative. Und die strikte Trennung zwischen Staat und Religion findet sich in kaum einem politischen System – auch und gerade nicht in den etablierten Demokratien Europas.

Warum keine Religion besser für Demokratie ist als die andere
Keine Religion ist per se besser oder schlechter für das Entstehen und den Fortbestand der Demokratie als die andere. Jede Religion ist in dem Maß mit einer freiheitlichen Ordnung und den universalen Menschenrechten vereinbar wie die Interpretation und das Handeln der Gläubigen es zulässt. So sind Christentum und Islam keine statischen Größen, sondern dynamische Glaubenssysteme. Sie formen und verändern sich im Laufe der Zeit und nehmen in verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Gestalten an. Beispielsweise folgt eine von Voudou-Elementen begleitete katholische Messe im haitianischen Port-au-Prince zwar einer ähnlichen Liturgie wie der Gottesdienst in der bayerischen Provinz, doch unterscheiden sich die politischen Rollen religiöser Würdenträger in beiden Ländern. Ein Blick auf die Demokratisierung in beiden Staaten verdeutlicht dies. Während in Haiti katholische Priester Anfang der 1990er Jahre der Befreiungstheologie folgten und die Gläubigen ihrer Gemeinden für die demokratische Sache mobilisierten, verhielt sich die katholische Kirche im Nachkriegsdeutschland eher verhalten zur Demokratie. Mehr noch die evangelische Kirche Deutschlands. Aus Angst vor der Wiederholung der Weimarer Geschichte positionierten sich viele kirchliche Vertreter gegen eine parlamentarische Demokratie und sprachen sich in innerkirchlichen Debatten für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie aus. Es dauerte bis in die 1950er Jahre, bis der westdeutsche Protestantismus mehrheitlich zu einer pragmatischen und mit den demokratischen Institutionen Westdeutschlands kompatiblen Haltung fand. Die deutsche Erfahrung zeigt, dass religiöse Organisationen sich der demokratischen Ordnung anpassen, sich mit ihr auseinandersetzen und diese beeinflussen können, ohne der Demokratie nachhaltig zu schaden.

Warum Demokratie und Islam kein Widerspruch sind
Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ist eine Tatsache. Allein in den Demokratien Indiens, Indonesiens und der Türkei leben insgesamt 457 Millionen Muslime. Fünf Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung sind Demokratien – Albanien, Indonesien, Mali, Senegal und die Türkei. In den Demokratisierungsprozessen der 1990er Jahre öffneten sich die politischen Regime von weiteren zwölf mehrheitlich muslimischen Staaten. Wie im Falle der überwiegend christlichen Länder (z. B. Nicaragua oder Sambia) sind darunter auch solche wie Niger und Bosnien-Herzegowina, deren demokratische Prozesse stagnieren. Jedoch lassen die Trends der vergangenen 20 Jahre keine Schlüsse auf die besondere Demokratiefreundlichkeit einer bestimmten Religion zu. Religiöse Akteure unterstützen und hemmen die Abkehr vom Autoritarismus und die Etablierung demokratischer Ordnungen in unterschiedlichem Maße. Beispielsweise haben die zwei größten muslimischen Verbände Indonesiens entscheidend zum Fall des Suharto-Regimes 1998 beigetragen. In Staaten wie Albanien oder Mali hingegen, in denen Vertreter muslimischer Organisationen verboten oder vom Staat kooptiert waren, leisteten sie einen verschwindend geringen Beitrag zur demokratischen Öffnung. Diese Beispiele zeigen auch, dass die vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen Islam und Demokratie nicht existiert. Nicht zuletzt trifft das auch auf den arabischen Raum zu, der lang als die stabilste autokratische Bastion galt. Die jüngsten Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien bestätigen, dass der Wille zur Freiheit keineswegs von der religiösen Neigung einer Bevölkerung abhängt.

Worauf es ankommt bei der Trennung zwischen Staat und Religion
Ist die Abkehr von der Autokratie einmal erreicht, gilt eine säkulare Ordnung zumeist als eine Voraussetzung für die Demokratie. So erwarten viele, dass sich der arabische Frühling nur dann in einen demokratischen Neuanfang verwandeln kann, wenn eine strikte Trennung zwischen Religion und Staat erfolgt. Doch das spiegelt keineswegs die Realitäten der meisten Demokratien dieser Welt wider. In Schweden wurde der Protestantismus als Staatsreligion erst 2002 abgeschafft, in Deutschland verwaltet der Staat die Kirchensteuer und in der Türkei übernimmt er die Ausbildung religiöser Würdenträger. Und dennoch – oder eben deshalb – bestehen hier demokratische Ordnungen fort. Für das Entstehen und die Festigung einer Demokratie ist vielmehr von Bedeutung, dass politische und religiöse Institutionen einander respektieren und nach demokratischen Regeln zusammenspielen. Das verdeutlichen Demokratisierungsprozesse seit dem 20. Jahrhundert über alle Religionen und Konfessionen hinweg. Auf lange Sicht ist die institutionalisierte Interessenvertretung religiöser Gruppen in einer politischen Ordnung eher förderlich als hinderlich für die Demokratie; auch in Form von religiös orientierten Parteien, die sich an freiheitlich-demokratischen Grundwerten orientieren. So bleibt nun abzuwarten, ob religiös motivierte Parteien den arabischen Frühling für einen demokratischen Neuanfang nutzen.

Über die Autorin

Leininger, Julia

Politikwissenschaftlerin

Leininger

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