Die Vereinten Nationen, nationale Souveränität und die „Responsibility to Protect”

Die Vereinten Nationen, nationale Souveränität und die „Responsibility to Protect”

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Mortimer, Edward / Axel Berger
Die aktuelle Kolumne (2010)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 22.03.2010)

Bonn, Salzburg 22.03.2010. Eine grundlegende Herausforderung von Global Governance ist das Spannungsverhältnis zwischen sich ausbreitenden globalen Normen und einem internationalen System, dessen Wurzeln auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurückgehen und das sich in fast 200 souveräne Nationalstaaten aufteilt. Angesichts dieses scheinbaren Zielkonflikts stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß internationale Organisationen – oder wer immer die „internationale Gemeinschaft“ repräsentiert – in der Lage und willens sind, in souveräne Bereiche von Nationalstaaten einzugreifen, um universell akzeptierte Prinzipien durchzusetzen. Der offensichtlichste Fall in dieser Hinsicht ist die Rolle des UN-Sicherheitsrats als dem Organ mit der Hauptverantwortung für internationalen Frieden und Sicherheit und insbesondere die „Responsibility to Protect“-Doktrin, inzwischen weithin mit „R2P“ abgekürzt.

Der Begriff „responsibility to protect“ spiegelt einen politischen Diskurs wider, der sich unter dem Eindruck einer Reihe humanitärer Tragödien, vor allem in Afrika, aber auch auf dem Balkan in den 1990er Jahren, entwickelt hat. In Reaktion auf die Haltung einiger Regierungen, Souveränität als ein unantastbares Privileg zu behandeln, das es Machthabern erlaubt, die schlimmsten Gräueltaten zu begehen, ohne von einer höheren Macht zur Verantwortung gezogen zu werden, betonte dieses Denken das Konzept der „Souveränität als Verantwortung“ – der Verantwortung eines Staates für die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Bürger.

Der 2001 von einer von der kanadischen Regierung eingesetzten internationalen Kommission veröffentlichte R2P-Report wurde zunächst durch eine kontroverse Debatte im Zuge der Ereignisse des 11. September 2001 belastet. Schlimmer noch, die anglo-amerikanische Invasion des Irak 2003 wurde von einigen Kommentatoren in irreführender Weise als Ausübung der R2P dargestellt, was die neue Doktrin in den Augen vieler Entwicklungsländer diskreditierte.

Dennoch erwies sich der Report im Laufe der Zeit bei der Neuformulierung von dem, was zuvor „humanitäre Intervention“ genannt worden war, insofern als bemerkenswert erfolgreich, da er es vielen Entwicklungsländern leichter machte, die neue Begrifflichkeit zu akzeptieren. Seine wesentlichen Gedanken wurden im Bericht des vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan nach dem Irak-Krieg eingesetzten Hochrangigen Panels aufgenommen, später im Bericht des Generalsekretärs „In größerer Freiheit“ und schließlich im Schlussdokument des UN-Gipfels vom September 2005. In Paragraf 138 akzeptierten die Staaten der Welt, dass jeder einzelne von ihnen „die Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung“ hat – vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und versprachen entsprechend zu handeln. In Paragraf 139 erklärten sie sich „bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Regionalorganisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat (…) zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung [vor den vier genannten Verbrechen] zu schützen.“ Sie verpflichteten sich auch, „den Staaten beim Aufbau von Kapazitäten zum Schutz ihrer Bevölkerung“ behilflich zu sein, „und besonders belasteten Staaten beizustehen, bevor Krisen und Konflikte ausbrechen.“ Unter derselben Überschrift erklärten sie in Paragraf 140 ihre Unterstützung der Mission des Sonderberaters des Generalsekretärs für die Verhütung von Völkermord – eine Position, die im Vorjahr anlässlich des zehnten Jahrestags des Völkermords in Ruanda eingerichtet worden war.

Trotz dieses bemerkenswerten Erfolgs wurde der Wert der Doktrin von zwei gegensätzlichen Standpunkten aus infrage gestellt. Auf der einen Seite behaupten viele Fürsprecher eines stärkeren humanitären Schutzes, dass die Worte des Schlussdokuments genau dies blieben – Worte eben – und dass der Sicherheitsrat in der Praxis nicht willens war, die vorgeschriebenen „kollektiven Maßnahmen“ zu ergreifen, insbesondere nicht im Fall von Darfur. Auf der anderen Seite scheinen Repräsentanten einiger Staaten, die das Schlussdokument akzeptiert haben, unter einer Art Katzenjammer zu leiden und bestrebt zu sein, die Gültigkeit einiger einschlägiger Paragrafen zu bestreiten oder ihre Bedeutung zu verwässern.

Zusätzlich zu diesen direkten Angriffen gibt es eine eher schleichende Gefahr, mit der Doktrin Maßnahmen zu decken, auf die sie offenkundig nicht anwendbar ist. Der frühere britische Premierminister Tony Blair hat dies nachträglich für die Invasion im Irak versucht, während Russland im August 2008 behauptete, seine Invasion in Georgien solle einen Genozid in Südossetien und Abchasien verhindern. Diese Einlassungen verdrehen nicht nur Wirkungen und nahezu sicher die Motive der infrage stehenden Aktionen, sie ignorieren auch munter die Bestimmung des Schlussdokuments, dass kollektive Maßnahmen „durch den Sicherheitsrat“ ergriffen werden.

Es wäre jedoch verfrüht, R2P als Fehlschlag abzuschreiben. Es braucht seine Zeit, damit sich eine neue Norm im tatsächlichen Verhalten der Menschen verankern kann. Ein angemessener Test könnte sein, über mehrere Jahrzehnte zu beobachten, ob die vier vom Schlussdokument abgedeckten Verbrechen weniger häufig auftreten und ob Aktionen, sie zu verhindern – von einzelnen Staaten und von der internationalen Gemeinschaft – zunehmen. Vielfach wurde argumentiert, dass die Vermittlung von Kofi Annan 2008 in Kenia ein erfolgreiches Beispiel der internationalen Gemeinschaft war, einen Genozid und ethnische Säuberungen „rechtzeitig und entschieden“ zu verhindern, bevor ein Punkt erreicht wurde, an dem militärische Gewalt nötig gewesen wäre.

Der neue UN-Generalsekretär Ban Ki-moon lehnt sich durchaus nicht zurück und wartet ab, aus welcher Richtung der Wind bläst. Zu Beginn seiner Amtszeit berief er einen Sonderberater, Edward Luck, damit dieser in Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten die für kollektive Maßnahmen notwendigen Kapazitäten identifiziert und aufbaut. Im Januar 2009 legte er einen von Herrn Luck erarbeiteten Bericht vor, der erheblich dazu beiträgt, das R2P-Konzept zu präzisieren, vor allem in dem er die notwendigen Maßnahmen in drei „Säulen“ unterscheidet: die Verantwortung der einzelnen Staaten, internationale Hilfe und „capacity-building“, sowie „rechtzeitige und entschiedene Reaktion“. Obwohl der Bericht nicht formell angenommen wurde, erhielt er von zahlreichen Mitgliedsstaaten während der Generalversammlung im Juli 2009 zustimmende Kommentare.

Man sollte nicht erwarten, dass sich die UN über Nacht von einer Mischung einander misstrauisch begegnenden und oft sehr eigennützigen souveränen Staaten zu einer Koalition wandeln, die überall auf der Welt die Menschenrechte hochhalten und die Bevölkerungen schützen. Anstrengungen in dieser Richtung, wie etwa die Entwicklung der R2P-Doktrin, sollten allerdings nicht vorzeitig abgeschrieben werden.

Diese Aktuelle Kolumne geht zurück auf einen Vortrag von Edward Mortimer zum Thema “Die Vereinten Nationen und Global Governance“ in der Global Governance School am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Diese ist Teil des Programms „Managing Global Governance“, einer Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die gemeinsam vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und InWEnt umgesetzt wird. Die Autoren danken den Teilnehmern der Global Governance School für ihre wertvollen Kommentare und Kritik.

Über den Autor

Berger, Axel

Politikwissenschaft

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