Wiederaufbau Syrien
Eine durchwachsene Bilanz ein Jahr nach al-Assad
Zintl, TinaDie aktuelle Kolumne (2025)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 08.12.2025
Bonn, 08. Dezember 2025. Vor genau einem Jahr floh der langjährige syrische Gewaltherrscher Baschar al-Assad außer Landes. Die Macht übernahm der umstrittene HTS-Milizenführer Ahmad al-Sharaa. Syriens politische Führung und sein internationales Image haben sich stark gewandelt, doch die Wirtschaft bleibt marode und die humanitäre Lage der Bevölkerung katastrophal. Deutschland und die EU sollten sich trotz aller Unwägbarkeiten stärker für einen gerechten Wiederaufbau und wirtschaftliche Teilhabe aller engagieren.
Mit großen – vielleicht zu großen? – Hoffnungen und Erwartungen hatten Syrer*innen weltweit den Machtwechsel am 8. Dezember 2024 verfolgt und die Freilassung zehntausender politischer Gefangener bejubelt. Ein Jahr später ist die Bilanz der neuen syrischen Regierung allerdings durchwachsen: Zwar wurden wichtige politische Prozesse angepackt – Übergangsverfassung, Übergangsregierung, indirekte Parlamentswahlen – diese jedoch als intransparent und undemokratisch harsch kritisiert. Die syrische Armee wurde kernsaniert und ehemals regimetreue Milizen entwaffnet, doch die Sicherheitslage bleibt angespannt und die Rolle islamistischer Strömungen in der Armee unklar: Übergriffe auf Minderheiten, etwa in der Küstenregion und in Suwayda, gingen durch die Medien; es kommt vermehrt zu Entführungen, die Zahl der zivilen Todesopfer steigt im Vorjahresvergleich sogar an, die Täter blieben meist straffrei.
Gleichzeitig ist die außenpolitische Strahlkraft von Präsident al-Sharaa immens: So wurde er in den Golfstaaten, der Türkei, Frankreich, Russland sowie den USA empfangen und er sprach in der UN-Vollversammlung – als erster syrischer Staatschef seit fast 60 Jahren. Doch regionalpolitisch ist Syrien schwach und im Norden und Süden durch die Türkei bzw. Israel in seiner Souveränität eingeschränkt.
Besonders schwer wiegt die katastrophale Wirtschaftslage, und hier treten die Versäumnisse und falschen Weichenstellungen der al-Sharaa Regierung deutlich zutage: Der einzige Erfolg war die sukzessive Aufhebung der meisten Sanktionen – was sich aber wegen Over-Compliance der Banken und Unsicherheit über gültige Vorschriften noch wenig auswirkt. Es gibt keine umfassenden Wiederaufbaupläne oder wirtschaftspolitische Roadmaps. Entscheidungen werden hinter geschlossenen Türen getroffen, oft vom Übergangspräsidenten selbst oder einem Vertrauten. Kostenreduzierung durch Privatisierung und die Akquise von Großinvestitionen stehen im Vordergrund, doch Herkunft und Modalitäten der bislang meist nur angekündigten Investitionen werfen oft Fragen auf. Darüber hinaus handelt es sich zumeist um Prestigeprojekte in der Hauptstadt – etwa einen neuen Flughafen oder eine Metrolinie – die für weniger wohlhabende Syrer*innen und auf dem flachen Land kaum von Bedeutung sind. Ein wirtschaftlich solider, auf lokalen Wertschöpfungsketten beruhender Wiederaufbau lässt sich so nicht erreichen.
Die notleidende Bevölkerung wartet bislang vergeblich auf eine ‚Friedensdividende‘, also darauf, dass sich der Machtwechsel positiv auf ihre unmittelbaren Lebensverhältnisse auswirkt. Noch immer leben zwei Drittel in Armut, ein Großteil ist auf Hilfen angewiesen. Schlimmer noch, angesichts des angespannten Staatshaushalts sind viele Reformauswirkungen auf die Bevölkerung negativ: Kündigungen und Jobunsicherheit im öffentlichen Dienst, Streichung von Subventionen und deutlich höhere Strompreise trotz hoher Lebenshaltungskosten betreffen große Teile der Bevölkerung. Zudem gibt es Hinweise auf Bodenspekulation und erneute Enteignungen. Proteste mehren sich. Bislang ist es Syrien nicht gelungen, ein menschenwürdiges neues System zu schaffen, das alle Bürger*innen in den gemeinsamen Wiederaufbau einbezieht.
Syrer*innen benötigen eine echte Perspektive, wann wichtige Basisdienstleistungen wiederhergestellt sind, und syrische Unternehmen brauchen Planungssicherheit. Deutschland und die EU sollten sich für eine bessere Geberkoordination und einen differenzierten Wiederaufbauplan mit verbindlichen Zielmarken einsetzen. Eine transparente Wiederaufbau-Koordinationsplattform zu öffentlichen Investitionen könnte, nach dem Vorbild der ukrainischen DREAM-Plattform, Vertrauen von Investoren und lokale Teilhabe stärken. Zudem würde ein deutsch- oder europäisch-syrischer Wiederaufbaurat, inklusive Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft und Kommunen, wichtige Impulse setzen.
Gerade Deutschland sollte angesichts seiner großen syrischen Diaspora eine größere Rolle im Wiederaufbau spielen, und sich nicht in verunsichernden und kurzsichtigen Rückkehr-Debatten verlieren. Es leistet Hilfe in humanitär wichtigen Bereichen wie Gesundheit und Bildung, doch es setzt seinen einmaligen Zugang und strategischen Vorteil bisher nicht in Wert. Mangels gezielter Förderprogramme und Investitionsgarantien überlassen deutsche Unternehmen das Feld risikobereiteren Wettbewerbern. Doch diese Pioniere, meist aus der Türkei und den Golfstaaten, gestalten Syriens neue Wirtschaftsordnung zugunsten eigener Interessen. Es bedarf einer vorausschauenden Syrien-Politik, die auf langfristige Austauschbeziehungen und das Anwerben und Halten von Fachkräften ausgelegt ist – nicht nur für einen inklusiven Wiederaufbau in Syrien, sondern auch für einen besseren sozialen Zusammenhalt zwischen Deutschen und Deutschsyrer*innen hierzulande.