Die aktuelle Kolumne

Erosion der Glaubwürdigkeit in Nahostkonflikten

Europas Doppelmoral im Angesicht des Völkerrechts

El-Haddad, Amirah / Aboushady, Nora
Die aktuelle Kolumne (2025)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 24.06.2025, 2., überarbeitete Auflage

Bonn, 24. Juni 2025. Europa verliert durch die offensichtliche Doppelmoral im Umgang mit den Konflikten im Nahen Osten an Glaubwürdigkeit. Das zeigt sich besonders in der Reaktion auf Israels jüngste Militäraktionen. Sollte Deutschland außenpolitisch weiterhin im Widerspruch zu den eigenen propagierten Werten handeln, riskiert es, den letzten Rest seiner Legitimität als vertrauenswürdiger Partner in der Region zu verspielen.

Am 13. Juni 2025 startete Israel einen großangelegten Luft- und Raketenangriff auf den Iran, der sich gegen Nuklearanlagen und Wohngebiete richtete. Dabei wurden Hunderte Iraner*innen getötet, darunter Zivilist*innen, hochrangige Militärs und mindestens zwölf führende Atomexpert*innen. Völkerrechtlich stellt dies einen schweren Verstoß dar. Nach Artikel 2 Nummer 4 der UN-Charta ist Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines anderen souveränen Staates strikt untersagt - außer auf Grundlage eines Sicherheitsratsbeschlusses oder im Fall legitimer Selbstverteidigung nach einem bewaffneten Angriff. Israels einseitiger Angriff – ohne UN-Mandat, ohne Resolution, ohne internationale Koalition und ohne unmittelbare Provokation – überschreitet eindeutig die Grenzen der Legalität.

Zwar hat der Iran seine Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) nicht vollständig erfüllt. Solche Verstöße sind jedoch von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und dem UN-Sicherheitsrat zu ahnden - eigens für die Regelung solch komplexer Fragen geschaffen. Israel ist keine Vertragspartei des NVV und verfolgt seit Langem eine undurchsichtige Atomwaffenpolitik in Bezug auf sein eigenes Atomwaffenarsenal. Anders als Indien und Pakistan, die den NVV ebenfalls nicht unterzeichnet haben, hat Israel den Besitz von Atomwaffen nie offiziell anerkannt. Dies wirft eine grundsätzliche Frage auf: Welche Autorität verleiht Israel das Recht, als Hüter eines Vertrags aufzutreten, dem es selbst nicht unterliegt?

Wenn Israel den Angriff mit einer angeblichen existenziellen Bedrohung rechtfertigt, wirft das die Frage auf, warum es legitim sein soll, wenn sich Israel auf diese Angst beruft, während die gleichen Sorgen seiner Nachbarn ignoriert werden? Viele arabische Staaten sehen in Israels uneingestandenem Atomwaffenarsenal eine direkte Bedrohung für die regionale Stabilität. Nach derselben Logik - wären sie dann nicht ebenso berechtigt, Israels Nuklearanlagen und Wissenschaftler*innen im Alleingang militärisch anzugreifen?

Ebenso beunruhigend ist die Reaktion eines Teils des demokratischen Westens. Während westliche Politiker im Umgang mit Konflikten im Globalen Süden häufig Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte betonen, stehen ihre Äußerungen zu Israels Vorgehen im krassen Gegensatz dazu. Anstatt den Angriff zu verurteilen, bekräftigten Staats- und Regierungschef*innen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erneut, dass Israel ein „Recht auf Selbstverteidigung“ habe. Eine vergleichbar klare Einordnung, wie sie im Fall von Russlands Invasion der Ukraine zu Recht erfolgt, lässt sich im Umgang mit Israels Vorgehen nicht finden. Beide Angriffe sind Akte der Aggression. Beide zu verurteilen ist entscheidend, um Gerechtigkeit und die Ablehnung doppelter Moral aufrechtzuerhalten.

Die Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung ist in diesem Zusammenhang problematisch. In den vergangenen zwei Jahren hat Israel in der gesamten Region umfangreiche Militäroperationen durchgeführt – von der Zerstörung des Gazastreifens bis hin zu Luftangriffen im Libanon, in Syrien und im Jemen – und dies häufig mit fadenscheinigen oder nicht belegten Begründungen. Diese Einsätze hatten gravierende humanitäre Folgen. Allein im Gazastreifen wurden nach Schätzungen von UNICEF seit Oktober 2023 über 50.000 Kinder getötet. Laut dem Sonderausschuss zur Untersuchung israelischer Praktiken und Amnesty International stellt Israels Vorgehen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord dar.

Das Ausmaß der Zerstörung ist erschütternd: Bis April 2024 hat Israel über 70.000 Tonnen Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen - mehr als die Bombenlast, die im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Dresden und Hamburg durch die Alliierten und auf London durch die deutsche Luftwaffe insgesamt eingesetzt wurde. Laut Expert*innen entspricht die Umweltbelastung und das menschliche Leid infolge dieser Angriffe in etwa den CO₂-Emissionen von zwei nuklearen Detonationen. Unter diesen Umständen stellt sich die Frage: Wer hat hier tatsächlich Grund, sich bedroht zu fühlen? Nachbarländer wie Ägypten und Jordanien äußerten ernsthafte Bedenken, selbst Ziel weiterer Angriffe zu werden - insbesondere, da sie sich dem Druck der USA und Israels widersetzen, Palästinenser*innen dauerhaft aufzunehmen, was das Recht der Palästinenser*innen auf eine Zwei-Staaten-Lösung untergraben würde.

Diese Entwicklungen werfen entscheidende Fragen zur Rolle Deutschlands in der Region auf. An erster Stelle sollte Deutschland, anstatt völkerrechtswidrige Handlungen stillschweigend zu billigen, die Waffenverkäufe beenden, die laufende Kriege befeuern. Gleichzeitig sollte es seine diplomatischen Bemühungen intensivieren – nicht nur, um Engagement zu zeigen, sondern mit dem klaren Ziel, eine politische Lösung und dauerhaften Frieden zu erreichen. Nur so kann es die Voraussetzungen schaffen, um seine ehrgeizigen Ziele der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit im Nahen Osten voranzubringen.

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