Flüchtlinge und internationaler Handel: Sind wir bereit, über das ‚Danach‘ zu reden?

Flüchtlinge und internationaler Handel: Sind wir bereit, über das ‚Danach‘ zu reden?

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Ragoussis, Alexandros
Die aktuelle Kolumne (2016)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 11.05.2016)

Bonn, 11.05.2016. Die Debatte über die Flüchtlingsströme, -welle oder -krise: Ausdrücke, mit denen das Phänomen – wie auch mit anderen vergifteten Metaphern – bezeichnet wird, kennt keine langfristige und kaum eine mittelfristige Sicht der Dinge. Die schiere Zahl von Flüchtlingen an Europas Grenzen hat die Region kalt erwischt. Die Situation verstört sowohl die Öffentlichkeit als auch das Regierungshandeln, gleich für wen und ob überhaupt Offenheit ökonomisch, ethisch und politisch sinnvoll ist. Fragen wie: „Erwarten wir, dass Immigration den Export ankurbelt?“ oder: „Fördert Handel die Integration von Flüchtlingen?“ machen das Ringen um die Flüchtlingspolitik nicht einfacher. Aber es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen, denn sie haben einen klaren Vorteil: Bei der Suche nach Antworten können wir selbst beim Thema Flüchtlingsmigration objektiv bleiben. Daher müssen wir unbedingt eine Debatte über das ‚Danach‘ führen und dafür sorgen, dass unsere Argumente in die politischen Beschlüsse über das Wer, Wo und Wie mit einfließen.

Was aber wissen wir über das Verhältnis von (Flüchtlings-)Migration, ethnischer Vielfalt und internationalem Handel? Wirtschaftsstudien lehren uns, dass ethnische Minderheiten Handel fördern: Sie wissen Bescheid über ausländische Märkte, Sprachen, Zölle und Unternehmenspraxis und senken so die Transaktionskosten von Exporten. Ihre Netzwerke gewährleisten, dass Verträge und Geschäftsvereinbarungen besser eingehalten werden. Und das ist nur ein Teil der Geschichte. Migranten bevorzugen Produkte, die im Aufnahmeland oft nicht erhältlich sind. Das steigert die Nachfrage nach Einfuhren aus der Heimat und anderen Ländern – kein neues Phänomen: Schon in den 1990er Jahren berichteten Wissenschaftler, dass die häufigste Tätigkeit von in die USA eingewanderten koreanischen Unternehmern der Im- und Exporthandel mit Korea war. Und als „Chinatown-Effekt“ bezeichnen wir – etwas flapsig – den Handel zwischen China und Ländern mit großen chinesischen Gemeinden.

Schätzungen besagen: Ein Anstieg der Einwandererzahl um 10 % kann den internationalen Handel eines Landes um durchschnittlich 1,5 % steigern. Was heißt es aber, mehr Handel zu treiben mit Ländern jenseits der eigenen Grenzen? Erheblich mehr, als man zunächst meinen könnte. Bislang dreht sich die öffentliche Debatte über die wirtschaftlichen Folgen von Migration um die üblichen Verdächtigen: Löhne und Arbeitsplätze, öffentliche Finanzen, Wachstum und Demographie. Die Erwartungen sind oft nicht klar: Ob Einwanderung den Staatshaushalt belastet, zu Wachstum beiträgt oder Arbeitsplätze schafft, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Der Effekt der höheren Internationalisierung hingegen ist eindeutig positiv – wird trotzdem aber oft vernachlässigt. Auch grenzüberschreitende Geschäfte schaffen durch Wettbewerb mit multinationalen Unternehmen Arbeitsplätze, Einkommen und Produktivität – positive Ergebnisse auf breiter Front.

Was für Migranten gilt, gilt auch für Flüchtlinge. Die Anwesenheit neuer Bevölkerungsgruppen, oft qualifiziert und unfreiwillig entwurzelt, wird Europas Wachstum und Wirtschaftsbeziehungen zu Nachbarregionen stärken und, wie Ökonomen es nennen, Win-win-Situationen erzeugen. De facto wird Europa, wenn der Nahe Osten und Nordafrika sicherer werden und Wachstum mittelfristig wahrscheinlich wird, nicht nur von der geographischen Nähe profitieren, sondern auch von stärkeren kulturellen Bindungen über die Einwanderer, die nun an seinen Grenzen stehen. In diese Verflechtungen zu investieren ist mehr als ein moralisches Gebot: Angesichts Europas geringem Wachstumspotential und des starken Wettbewerbs mit aufstrebenden Mächten ist es ein strategisches Muss.

Allerdings können einige Einwanderer mehr Handelseffekte in Aufnahmeländern erzeugen als andere: So hat sich gezeigt, dass sehr gut oder gut ausgebildete Einwanderer Handel stärker fördern. Außerdem ist selten oft besser: Eine im Aufnahmeland kulturell sehr andersartige und kleine Bevölkerungsgruppe bringt wertvollere Kenntnisse und Fähigkeiten mit. Das wirft Fragen auf, die sich noch nicht beantworten lassen. Was ihre Entwicklung, Berufe und räumliche Konzentration betrifft, wissen wir viel über Einwanderung im 20. Jahrhundert, aber sehr wenig über die jetzt ankommenden Flüchtlinge.

Umso wichtiger ist es, mehr herauszufinden. Jenseits von Politik und Völkerrecht kann die Wirtschaft erklären, wie Europa auf die aktuellen Migrationsströme reagieren sollte. Das Gebot, Menschen vor Kriegen, Konflikten und dem Verhungern zu schützen, ist eindeutig. Das „Was dann?“ ist es nicht. Vielleicht gibt es Ecken in Europa, wo Flüchtlinge mehr zum lokalen Wirtschaftsleben beitragen und einen größeren Anteil am Wohlstand haben. Darüber diskutieren wir momentan leider nicht. Unser Problem ist, dass wir Europäer die Grundlagen des Zusammenlebens mit Flüchtlingen in unseren Ländern noch nicht geklärt haben. Fremdenhass, Zuwanderungsgesetze, politische Rivalitäten – all das lässt wenig Raum für eine, wenn auch noch so wichtige, Debatte über das „Danach“.

Alexandros Ragoussis ist Assoziierter Wissenschaftler am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

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