Lasst keinen zurück! Mobilisierungsversuch für das Tabuthema Ungleichheit

Lasst keinen zurück! Mobilisierungsversuch für das Tabuthema Ungleichheit

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Rippin, Nicole
Die aktuelle Kolumne (2013)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 09.09.2013)

Bonn, 09.09.2013. Am 15. September 2013, dem Internationalen Tag der Demokratie, beginnt der „Leave No One Behind! (Lasst Keinen Zurück!)"-Mobilisierungsmonat. Die internationale Kampagne wurde von einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen ins Leben gerufen, um von der internationalen Gemeinschaft ein stärkeres Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit und insbesondere gegen die unvermindert um sich greifende Ungleichheit zu fordern. Damit soll vor allem die Generalversammlung der Vereinten Nationen erreicht werden, die sich am 25. September 2013 zusammenfinden wird, um über eine neue Entwicklungsagenda nach 2015 zu beraten. Das größte Problem der Kampagne: Ungleichheit ist alles andere als ein beliebtes Thema.

Tabuthema Ungleichheit

Warum gerade Ungleichheit ein Tabuthema ist, erklärte Branko Milanovic, leitender Ökonom bei der Weltbank, äußerst anschaulich in einem kürzlich geführten Interview. Gegen Armut vorzugehen, so der Ökonom, streichle das Ego und bringe ethische Pluspunkte. Ungleichheit aber sei anders: jede Erwähnung werfe die Frage auf, ob das eigene Einkommen angemessen oder legitim sei. Von den ärmeren Bevölkerungsschichten einmal abgesehen, lässt sich wohl niemand gerne eine solche Frage stellen. Geht es also um gute Taten, ist eine Mobilisierung vergleichsweise leicht. Ganz anders sieht es aus, wenn es um so fundamentale Fragen wie die weltweite Einkommensverteilung geht. 1,75 % der weltweiten Spitzenverdiener haben mittlerweile ein Einkommen angehäuft, das das Gesamteinkommen der unteren 77 % übersteigt. Angesichts dieser Zahlen einmal die Frage nach Fairness zu stellen, scheint mehr als berechtigt. Und tatsächlich existiert auch ein bekanntes internationales Abkommen, auf das sich die Ungleichheitsgegner berufen können: die Millenniumserklärung.

Die Millenniumserklärung

Die am 8. September 2000 verabschiedete Millenniumserklärung identifiziert Gleichheit als eines von sechs fundamentalen Grundrechten. Auch die aus ihr abgeleiteten, bis 2015 geltenden, Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) enthalten ein Ziel gegen Ungleichheit. Es misst die Möglichkeit der unteren 20 % einer Bevölkerung, am nationalen Konsum teilhaben zu können. Dieses Ziel ist eines der erfolglosesten. Es wird nicht thematisiert, es wird kaum kontrolliert, nur wenigen ist bewusst, dass es überhaupt existiert. Kurz, es ist ein Ziel, das im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen wurde. Der Grund dafür dürfte in der von Branko Milanovic umrissenen Unbeliebtheit des Themas liegen. Angesichts der Tatsache, dass sich das Jahr 2015 in riesigen Schritten nähert, stellt sich nun die Frage, wie eine Entwicklunsagenda nach 2015 aussehen könnte – und wie das Thema Ungleichheit in wirkungsvollerer Weise adressiert werden könnte.

Entwicklungsagenda Post-2015

Im Juli 2012 hatte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon ein 27-köpfiges internationales Gremium mit dem Ziel ins Leben gerufen, Vorschläge für eine zukünftige Entwicklungsagenda zu erarbeiten. Diese „hochrangige Gruppe namhafter Persönlichkeiten“ – im Englischen High Level Panel of Eminent Persons (HLP) genannt – erhielt den ausdrücklichen Auftrag, einen realistischen und dennoch ambitionierten Bericht für die internationale Entwicklungszusammenarbeit nach 2015 vorzulegen. Dieser Auftrag führte zu beträchtlichem internationalem Interesse an der Arbeit der Gruppe; auch von denjenigen, die für den Abbau internationaler Ungleichheit streiten. Unter anderem wurde im März 2013 ein offener Brief von Ökonomen, Akademikern und Entwicklungsexperten an das Gremium gerichtet. Die Forderung der neunzig führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Das Thema Ungleichheit solle in den Mittelpunkt der zukünftigen Entwicklungsagenda gerückt werden. Als das Gremium am 30. Mai 2013 schließlich seinen Bericht vorlegte, waren viele Kritiker enttäuscht: Ein Ziel zur Bekämpfung weltweiter Ungleichheit ist nicht enthalten. Stimmen wurden laut, die dem Gremium vorwerfen, in diesem wichtigen Punkt versagt zu haben. Aber ist diese Kritik berechtigt?

Forderung nach Chancengleichheit

Das Ungleichheitsziel der aktuellen Milleniumsentwicklungsziele ist so gut wie wirkungslos geblieben. Daher kommen Zweifel auf, ob ein ähnliches Ziel in der neuen Entwicklungsagenda von mehr Erfolg gekrönt wäre. Was kann die Lösung sein? Einen äußerst weitreichenden Vorschlag macht ausgerechnet der kritisierte Expertenbericht. Statt zu versuchen, Ungleichheit durch die Formulierung eines einzelnen, alleinstehenden Ziels zu bekämpfen, schlägt der Bericht vor, Ungleichheit in jedes einzelne der zukünftigen Ziele einzubauen. Das heißt im Klartext, jedes Ziel sollte nur dann als erreicht gelten, wenn es von allen Einkommens- und sozialen Gruppen erreicht wird. Wurde beispielsweise in den MDGs die Impfrate in der Bevölkerung erhöht, galt dies als Erfolg. Durch diese Betrachtungsweise wurden besorgniserregende Entwicklungen wie z.B. in Nigeria, wo die Impfrate der obersten Einkommensschichten zwar deutlich zugenommen hat, dafür aber die der untersten Schicht halbiert wurde, überhaupt nicht wahrgenommen. Mit dem neuen Vorschlag hingegen wäre ein Ziel erst dann erreicht, wenn es nicht nur von den Reichsten, sondern auch von den Ärmsten und den sozial Benachteiligten erlangt wird. Mit anderen Worten, niemandem sollte der Zugang zu wichtigen Einrichtungen wie beispielsweise Bildungssystem, Arbeitsmarkt oder Gesundheitssystem aufgrund von sozialer Herkunft, Geschlecht, Rasse, Religion u. ä. verwehrt oder eingeschränkt werden. Es ist eine Forderung nach Chancengleichheit.

Sicher, mit dieser Forderung ist das Problem der Ungleichheit noch nicht gelöst. Aber sie ist ein erster, maßgeblicher Schritt in die richtige Richtung. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat sie in seinem eigenen, am 26. Juli 2013 vorgelegten, Bericht bereits aufgegriffen. Dieser Bericht wird die Diskussionsgrundlage für die Generalversammlung am 25. September sein. Die Frage ist nun, ob die internationale Gemeinschaft die Forderung ebenfalls aufgreifen wird. Die „Lasst Keinen Zurück!“-Kampagne jedenfalls wird alles daran setzen.

Über die Autorin

Rippin, Nicole

Ökonomin

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