Zeitenwende

„Moral muss man sich leisten können!“

„Moral muss man sich leisten können!“

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Klingebiel, Stephan
Die aktuelle Kolumne (2022)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), (Die aktuelle Kolumne vom 14.11.2022)

Bonn, 14.11.2022. Politik steckt voller Zielkonflikte und Widersprüchlichkeiten. Die Liste der autokratisch geführten Länder, in die hochrangige deutsche Regierungsvertreter*innen in den vergangenen Monaten – in außergewöhnlichen Krisenzeiten –  Auslandsreisen unternahmen, erfuhr einige öffentliche Kritik. Ziel vieler dieser Reisen ist es, die Energiesicherheit für Deutschland zu erhöhen – nicht zuletzt durch Abkommen, die den Zugang zu weiteren fossilen Energien erreichen sollen.

Selbstredend sind vertiefte Beziehungen zu Autokratien und Abkommen über die Lieferung neuer fossiler Energien nicht Teil einer beabsichtigten Politik. Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung hat sich das Ende des fossilen Zeitalters und eine wertegeleitete internationale Politik zum Ziel gesetzt. „Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert (…) aufstellen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Angesichts dieses Anspruchs werden Zielkonflikte umso deutlicher – etwa mit Blick auf die im Oktober genehmigten Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien.

Widersprüchlichkeiten in der Politik der Handelnden aufzuzeigen, ist meist nicht besonders schwierig. Dies lässt sich durchweg für frühere Bundesregierungen konstatieren. Dies gilt umso mehr seitdem Russlands Aggressionspolitik kurzfristig einschneidende Veränderungen erforderlich gemacht hat. Zugleich ist eine Bundesregierung, die gerade die Wertebasierung in den Mittelpunkt stellt, besonders herausgefordert.

Entwicklungspolitik ist stärker als andere Politikfelder durch Werte begründet. Humanismus, christliche Werte, Fragen der internationalen Gerechtigkeit und andere Werte spielen eine vergleichsweise hervorgehobene Rolle. Werte schließen auch Interessen nicht aus und umgekehrt – zumal beide Begriffe nicht auf absolut klar abgrenzbaren Konzepten beruhen.

Entwicklungspolitik muss sich in fundamentalen Umbruchzeiten verändern. Insofern ist gerade die Frage nach dem Verhältnis von Werten und Interessen wichtig. Die Frage ist prinzipieller Natur, sie ist aber ebenso als Kompass für konkrete Entscheidungen von enormer Bedeutung. Muss Entwicklungspolitik nach Jahren der Beschäftigung mit Lieferketten neben den Produktionsbedingungen in Entwicklungsländern strategische Aspekte der Rohstoff- und Energieversorgung für Deutschland stärker in den Blick nehmen? Wie soll unter diesen Vorzeichen entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit autokratischen Regimen aussehen?

Folgende Punkte sollten für eine Positionierung berücksichtigt werden:

Erstens, wertebasierte Politik ist für internationale Glaubwürdigkeit unmittelbar relevant: Die Annahme, Werte könnten in „Schönwetterzeiten“ Platz finden, hätten aber in Krisenzeiten keinen Bestand, verkennt die Rolle von Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Transparenz in den internationalen Beziehungen. Die Debatten bei den Vereinten Nationen zur russischen Aggressionspolitik haben deutlich gemacht, wie Doppelstandards (etwa mit Blick auf die Irak-Militärintervention von 2003) oder ausbleibende Reformen bei Global-Governance-Strukturen unmittelbar (deutsche) Sicherheitsinteressen berühren. Entwicklungspolitik kann dabei ein entscheidendes Politikfeld in der Kooperation mit dem Globalen Süden sein.

Zweitens, viele Debatten sind unterkomplex, weil sie monothematisch geführt werden: Globale Herausforderungen – angefangen von Ungleichheit über Klimawandel bis hin zu Legitimität von politischer Herrschaft – sind jeweils schon für sich genommen schwierig und lassen sich oft anhand von dichotomen Mustern (Autokratien versus Demokratien; „Norden“ versus. „Süden“ etc.) nicht sinnvoll erfassen. Für Entwicklungspolitik ist es wichtig, mit dieser Vielschichtigkeit umzugehen. Schlicht nur auf die „Bedürftigkeit“ eines Landes zu schauen (unabhängig etwa von der Bedeutung von Regierungsführung für bestehende Probleme) wäre eine solche Verkürzung, ebenso wie ausschließlich Regierungsführung als einziges Kriterium für die Auswahl von Kooperationsbeziehungen zu setzen. Besonders sichtbar werden Zielkonflikte mit Blick auf China, wo eine Vielzahl u.a. von wirtschaftlichen, sicherheitsrelevanten und menschenrechtsbezogenen Themen zusammenkommen.

Drittens, Zielkonflikte existieren und sollten transparent diskutiert werden: Für Entwicklungspolitik und andere Politikfelder gilt, dass es einen Unterschied macht, ob und wie Widersprüchlichkeiten thematisiert werden. Der Abwägungs- und Priorisierungsprozess macht Politik aus.

Politik basiert im besten Fall auf langfristigen Zielen und dazu passenden Strategien. Die multiplen Krisen zwingen dazu, in Zeiten von grundlegenden Unsicherheiten, Politiken in Form von Strategien zu formulieren – selbst wenn dies angesichts rasch veränderlicher Grundlagen extrem schwierig ist. Dies zeigt sich mit Blick auf die Vorbereitung der ersten deutschen nationalen Sicherheitsstrategie und ähnlich auf die angekündigte China-Strategie der Bundesregierung. Neben dem Bedarf an längerfristiger Orientierung sollte die Aufmerksamkeit auf konkrete Mechanismen zur „Aushandlung“ von Zielkonflikten innerhalb und vor allem zwischen Politikfeldern liegen. Ein besseres Schnittstellenmanagement wäre in der deutschen Politik ein wichtiger Schritt, mit Zielkonflikten umzugehen. Die anstehenden Strategie-Dokumente sollten daran gemessen werden, ob sie zu einer solchen verbesserten Politikkohärenz einen Beitrag leisten können.

Über den Autor

Klingebiel, Stephan

Politikwissenschaft

Klingebiel

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