Müssen wir den Freihandel überdenken?

Müssen wir den Freihandel überdenken?

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Brandi, Clara / Dominique Bruhn
Die aktuelle Kolumne (2016)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 04.10.2016)

Bonn, 04. Oktober 2016. Sigmar Gabriel hat jüngst die Transatlantische Partnerschaft (TTIP) für gescheitert erklärt und auch das kanadische Abkommen CETA schlägt hohe Wellen. Die Skepsis an Freihandelsabkommen ist auf einem historischen Hoch. Und nicht nur das. Auch die Zustimmung zu freiem Handel generell sinkt und Globalisierungskritiker in weiten Teilen der Welt bekommen Aufwind – sogar unter ehemaligen Freihandelschampions wie Deutschland. Wie kann man diese Trends erklären?

Erstens: Handelsregeln dringen immer weiter in sensible nationale Politikbereiche vor.

In Deutschland und der EU steht vor allem im Fokus der Debatte: Neuere Handelsregeln gehen häufig weit über den Abbau von Zöllen hinaus und betreffen auch Themen wie Verbraucher- und Umweltschutz. Durch TTIP sollen beispielsweise Standards, die sich zwischen den USA und der EU unterscheiden, durch regulatorische Kooperation angeglichen werden. Einigen sich die Verhandler auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, ginge das zu Lasten dieser Standards. Obwohl führende Politiker betonen, dass europäische Standards nicht gesenkt werden sollen – die Befürchtungen der Zivilgesellschaft sind massiv. Verbraucher- und Umweltschutz sollte in den Verhandlungen ernst genommen werden und nicht wirtschaftlichen Interessen zum Opfer fallen. Handelsabkommen sollten vielmehr dazu genutzt werden, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Sinne des globalen Gemeinwohls zu reformieren. Doch auch bei den klassischeren Fragen der Handelspolitik gibt es Raum für Diskussionen – nicht zuletzt aus der Perspektive der Entwicklungsländer.

Zweitens: Die positiven Auswirkungen des Freihandels sind hinter den Erwartungen einiger Länder zurückgeblieben.

Seit langem gelten Exporte als Wachstumsmotor. Die verstärkte globale Fragmentierung der Produktion bietet den Verfechtern der Marktliberalisierung ein weiteres stichhaltiges Argument: Um in globalen Wertschöpfungsketten wettbewerbsfähig zu sein, müssen auch importierte Zwischengüter kostengünstig verfügbar sein – eine klare Absage an Importzölle und den Schutz heimischer Industrien. Tatsächlich bieten globale Wertschöpfungsketten gerade für Entwicklungsländer große Chancen: Durch die Verwendung ausländischer Zwischenprodukte können sie die Teile des Produktionsprozesses übernehmen, die sie am besten her- oder bereitstellen können – ohne selbst eine ganze Industrie aufbauen zu müssen. Allerdings sind viele Entwicklungsländer vor allem in Niedriglohnsegmenten aktiv, z.B. dem Zusammennähen von Textilien. Kritiker betonen, dass der Freihandel Entwicklungsländer in ihrem aktuellen komparativen Vorteil, z.B. dem Export von Rohstoffen und dem einfachen Zusammenbauen importierter Zwischengüter, gefangen hält und dass Handels- und Investitionsabkommen ein „Upgrading“ zu höherwertigen Gütern und komplexeren Produktionsschritten erschweren. Es ist deshalb wichtig, eine Balance zu finden zwischen dem Abbau von Handelsbarrieren und der Wahrung eines gewissen Politikspielraums zur Umsetzung nationaler Entwicklungsstrategien.

Drittens: Nicht alle Menschen haben vom Freihandel profitiert.

Freihandel führt zu Veränderungen der Wirtschaftsstruktur: Spezialisieren Länder sich gemäß ihres komparativen Vorteils, werden diejenigen Sektoren wachsen, die die relativ günstigeren Produktionsfaktoren intensiv einsetzen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Arbeitsplätze dort verloren gehen, wo Produktionsschritte günstiger im Ausland durchgeführt werden können – z.B. das Zusammenbauen des iPhones in China. Die effizientere Verteilung von Produktion bringt also Gewinner und Verlierer hervor. Gleichzeitig sorgt sie für niedrigere Preise, die allen Konsumenten zu Gute kommen. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen allerdings, dass die armen Bevölkerungsschichten aufgrund unterschiedlicher Konsummuster weniger vom Freihandel profitiert haben als die reichen. Die Preise von Gütern und Dienstleistungen, die vornehmlich von reicheren Bevölkerungsschichten konsumiert werden, sind stärker gefallen als zum Beispiel von Agrarprodukten, für die die ärmere Bevölkerung einen großen Anteil ihres Einkommens aufwendet. Unterm Strich gilt jedoch: Der Wohlfahrtsgewinn durch Freihandel ist groß genug, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren und am Ende alle profitieren könnten. In Zukunft sollten den unterschiedlichen Auswirkungen des Freihandels besser Rechnung getragen und angemessene Politikmaßnahmen diskutiert werden.

Der Freihandel war in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Treiber ökonomischer Entwicklung. Wir sollten ihn in Zeiten von düsteren weltwirtschaftlichen Wachstumsprognosen nicht begraben. Aber wir brauchen eine neue Form des Freihandels. Einen Freihandel, der einer zum Teil berechtigten Kritik Sorge trägt. Damit das gelingt, sollte der internationale Handel auch im Einklang mit den globalen Nachhaltigkeitszielen stehen – ökonomisch, sozial und ökologisch. Die G20 ist ein wichtiger Akteur, um dieses Ziel umzusetzen.

Über die Autorin

Brandi, Clara

Ökonomie und Politikwissenschaft

Brandi

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