Die aktuelle Kolumne

Nahost-Krise

Staatsräson, Gaza-Krieg und der Schaden an der regelbasierten Weltordnung

Furness, Mark / Max-Otto Baumann
Die aktuelle Kolumne (2024)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 02.05.2024

Bonn, 2. Mai 2024. Seit dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 rechtfertigt die Bundesregierung ihre politische und militärische Unterstützung von Israels Krieg in Gaza mit dem Prinzip der „Staatsräson“. Es basiert auf Deutschlands Verantwortung für den Holocaust und bedeutet die moralische Verpflichtung, das jüdische Volk und sein Land zu schützen. Die Staatsräson gilt als ein moralischer Pfeiler des deutschen Staates.

Das strikte Festhalten der Bundesregierung an der Staatsräson und wie diese auf Israel angewandt wird, irritiert. Man kann darin eine berechtigte innenpolitische Sorge über den zunehmenden Antisemitismus erkennen, doch untergräbt die bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung die moralische Verantwortung zum Schutz des menschlichen Lebens, auf der die Staatsräson letztlich beruht.

Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Wie der Krieg gegen Gaza geführt wird, stellt jedoch einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Es fällt schwer, den Tod von mehr als 30.000 Menschen und die Zwangsvertreibung von 85 % der Bevölkerung von Gaza nicht als kollektive Bestrafung zu betrachten, was nach den Genfer Konventionen verboten ist. Ihre Strategie der verbrannten Erde hat die israelische Regierung damit gerechtfertigt, dass die Hamas "menschliche Schutzschilde" gebrauche. Das ist zwar nach den Genfer Konventionen auch verboten, aber diese Menschen haben dennoch Anspruch auf Schutz. Israels Evakuierungsbefehl an 1,1 Millionen Menschen in Gaza impliziert, dass diejenigen, die zurückbleiben, legitime Ziele sind. Auch der israelische Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus verstieß gegen das Völkerrecht, und zwar gegen die Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen. Der Angriff war rücksichtslos und führte zu einem beispiellosen iranischen Vergeltungsschlag mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen.

Die israelische Regierung sieht ihr Vorgehen als Verteidigung gegen existenzielle Bedrohungen in einem gewalttätigen regionalen Kontext. Der Sinn einer regelbasierten Weltordnung ist jedoch, dass Konflikte im Rahmen des Völkerrechts ausgetragen werden, weil dies langfristig die beste Chance für den Weltfrieden bietet. Die gefährliche regionale Eskalation, die nun vom Gaza-Krieg ausgeht, scheint diese im Völkerrecht verankerte Weisheit zu belegen. Im Ukraine-Konflikt haben Deutschland und andere westliche Regierungen an diese Weisheit appelliert, nicht aber in der jüngsten Nahost-Krise, trotz Parallelen bei Opferzahlen und Eskalationsgefahr.

Die Staatsräson beeinflusste auch Deutschlands partiellen Finanzierungsstopp für das Palästinenserhilfswerk UNWRA. Die grundsätzliche Notwendigkeit, die einzige Organisation zu unterstützen, die in einer sich verschärfenden Hungerkrise noch humanitäre Hilfe in großem Umfang leisten kann, ging verloren im Zuge von Israels Vorwürfen, UNRWA-Mitarbeiter hätten am Terror-Angriff vom 7. Oktober mitgewirkt. Deutschland und andere westliche Regierungen haben dann auch die dringenden Appelle des UN-Generalsekretärs ignoriert, UNRWA weiterhin zu unterstützen zur Linderung des Leids in Gaza.

Auf globaler Ebene hat der Kurs der Bundesregierung eine antiwestliche Stimmung verschärft. Vor zwei Jahren verurteilte die UN-Generalversammlung die russische Aggression in der Ukraine mit großer Mehrheit. Jetzt sind Deutschland und einige andere westliche Länder durch ihre Stimmenthaltung bei Gaza-Resolutionen isoliert. Der Vorwurf der Doppelmoral, der lange Zeit an andere westliche Staaten gerichtet wurde, wird nun auch Deutschland gemacht. Anstatt für seine Integrität respektiert zu werden, hat Deutschland die Demütigung erlitten, vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Unterstützung von Völkermord angeklagt zu werden. All dies eröffnet anderen globalen Mächten Möglichkeiten, Spaltungen im Lager derjenigen auszunutzen, die für liberale Werte eintreten.

Die Unterstützung Deutschlands für die israelische Regierung schadet dem Eintreten für eine regelbasierte, humane internationale Ordnung und auch den deutschen Ambitionen auf einen ständigen Sitz in einem reformierten UN-Sicherheitsrat. Deutschlands Bemühungen um mehr internationale Verantwortung müssen sich daran messen lassen, wie Deutschland sich für das Völkerrecht und zivilisatorische Normen verwendet und wie es Deutschland gelingt, einen Ausgleich der legitimen Interessen aller Seiten, einschließlich der Palästinenser, herzustellen. Als Mittelmacht ist internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands höchstes strategisches Gut und die Währung, mit der es seinen Einfluss am besten geltend machen kann.

Die Bundesregierung hat zu Recht den Terrorismus der Hamas verurteilt. Deutschland hat eine Verantwortung für Israel und seine Bürgerinnen und Bürger, aber die Staatsräson darf nicht dazu herhalten, Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu decken. Es genügt auch nicht, einen humanitären Zugang nach Gaza zu fordern. Deutschland muss Bedingungen stellen: Einen Stopp von Waffenlieferungen, solange diese Waffen für Verstöße gegen die Genfer Konventionen genutzt werden. Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass die israelischen Militäroperationen in Gaza unverantwortlich sind und letztlich die Sicherheit Israels selbst untergraben. Dies wäre ein besserer Ausdruck der deutschen Staatsräson.

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