WTO-Führungswechsel – Neue Dynamik für Herkules-Herausforderungen?

WTO-Führungswechsel – Neue Dynamik für Herkules-Herausforderungen?

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Brandi, Clara
Die aktuelle Kolumne (2013)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 21.05.2013)

Bonn, 21.05.2013. Letzte Woche wurde der Brasilianer Roberto Azevêdo offiziell als frisch gekürter Chef der Welthandelsorganisation (WTO) bestätigt. Die WTO ist am Wendepunkt. Zu den größten Herausforderungen zählen der Doha-Stillstand und die wuchernden Regionalabkommen. Wie kann die neue WTO-Spitze Dynamik in das Welthandelssystem bringen? Für das Schicksal der Welthandelsregeln spielt der WTO-Chef nicht die erste Geige. Der politische Wille der Mitgliedsstaaten ist tonangebend. Dennoch kann der neue Generaldirektor wichtige Akzente für die Zukunft der globalen Weltwirtschaftsregeln setzen.

Die Entscheidung für Azevêdo illustriert den großen Einfluss der Schwellenländer in der WTO. Azevêdo setzte sich gegen den ehemaligen mexikanische Handelsminister Blanco durch, der von den Vereinigten Staaten (USA) und der Europäischen Union (EU) unterstützt worden war. China sowie die Mehrheit der Entwicklungsländer und Russland ermöglichten letztlich Azevêdo den Weg zur WTO-Spitze. Azevêdo gelobt, der Doha-Runde neues Leben einzuhauchen. Er habe die erforderlichen Fähigkeiten, so sagte er kürzlich in einem Interview, für neue Bewegung zu sorgen: Er könne die Ärmel hochkrempeln und kenne das WTO-System von innen. Ob Lamys Nachfolger den Doha-Stillstand durchbrechen kann? Das ist in den Augen vieler Beobachter eher unwahrscheinlich. Eine Chance für Fortschritt bietet sich Anfang Dezember in Bali, wenn die nächste WTO-Ministerkonferenz ansteht. Die Erwartungen sind hoch – auch an den neuen WTO-Generaldirektor.

Doch: mit dem Posten des WTO-Generaldirektors ist letztlich nur wenig Macht verknüpft. Wer auch immer den Chefposten der WTO innehat, der Erfolg der Doha-Runde ist abhängig von den Verhandlungspositionen der Mitgliedsstaaten. Ihnen wiederum mangelt es an politischem Willen, sich auf ein neues Abkommen zu einigen. Das Schicksal der Doha-Runde hängt also weniger vom neuen WTO-Chef ab, als davon, dass die Mitgliedsstaaten aufeinander zugehen. Doch mit seinem diplomatischem Geschick und seiner Überzeugungskraft wird Azevêdo dennoch dazu beitragen können, die anstehenden Herausforderungen anzugehen und das zukünftige Gesicht des Welthandelssystems zu prägen.

Erstens ist eine starke Führung notwendig, um die Doha-Verhandlungen wiederzubeleben oder beizeiten offiziell für „tot“ zu erklären – sollte auch in naher Zukunft keine Einigung in Sicht sein. Die beste Strategie für die nächste Ministerkonferenz ist es wohl, zu retten, was noch zu retten ist – vor allem mit Blick auf die ärmsten Länder – und dann den Erfolg des dort beschlossenen Pakets und den Abschluss der Doha-Runde zu verkünden. Sollte jedoch kein Kompromiss zustande kommen, wäre es an der Zeit, die Doha-Runde endlich auch formell zu begraben. Das würde die Möglichkeit eröffnen, Doha hinter sich zu lassen und sich in der WTO endlich den Themen des 21. Jahrhunderts zu widmen.

Zweitens, was auch immer in Bali passieren wird, Azevêdo kann den künftigen inhaltlichen Weg der Organisation prägen. Es gibt eine Reihe von schwierigen Zukunftsfragen, bei denen er sich einbringen sollte. Zu den wichtigen Themen, neben vielen anderen, zählen Rohstoffhandel, globale Wertschöpfungsketten und die Notwendigkeit, Handel und Klimamaßnahmen in Einklang zu bringen. Daneben sollte der Brasilianer eine Diskussion zur immer bedeutender werdenden Schnittstelle von Handel und Energie anstoßen. Eine solche Diskussion unter den Mitgliedsstaaten ist die Voraussetzung für eine Einigung über die künftige Rolle der WTO in der globalen Energiepolitik.

Drittens kann Azevêdo neue Dynamik in die Debatte zur institutionellen Reform der WTO bringen. Grund für das Stocken der Doha-Runde ist nicht nur die fehlende Kompromissfähigkeit der Mitgliedsstaaten, sondern auch die derzeitige Struktur der Organisation. Entscheidungen werden im Konsens gefällt. Einzelne Staaten können so die Verhandlungen jederzeit mit ihrem Veto blockieren. Und: die Verhandlungen lassen sich nur mit der Einigung auf ein Gesamtpaket beenden, mit dem alle 159 Mitglieder einverstanden sind (single undertaking). Hier kann Azevêdo wichtige Impulse setzen, indem er eine Debatte über mehr Spielraum für eine WTO der verschiedenen Geschwindigkeiten forciert. Kleinere, Abkommen mit einer „Gruppe von Willigen“ erfordern keinen Konsens von allen Mitgliedern zu einem großen Paket – und bieten so mehr Möglichkeiten für den erfolgreichen Abschluss von Verhandlungen.

Plurilaterale Abkommen im Rahmen der WTO bieten auch eine wichtige Alternative zu bilateralen und regionalen Handelsabkommen, die vermehrt das globale Handelssystem unterwandern. Insbesondere die Verhandlung transpazifischer und transatlantischer Mega-Regionals bedeutet nicht weniger als die Neuformulierung der weltwirtschaftlichen Spielregeln. Wir erleben eine neue Phase des handelspolitischen Regionalismus, der die WTO weit mehr als bisher zu unterminieren droht.

Viertens könnte Azevêdo eine Führungsrolle dabei übernehmen, den Verfechtern des globalen Handelssystems neuen Schwung zu geben. Die WTO könnte von Institutionen wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) lernen, die stark auf Training, Forschung und Outreach fokussieren. Die überzeugendste Forschung zu den Nachteilen für Entwicklungsländer durch Agrarprotektionismus in den Industrienationen kam von der Weltbank – und nicht von der WTO. Durch verstärkte Trainings-, Forschungs- und Outreach-Aktivitäten wird die WTO erfolgreicher eine große globale Anhängerschaft ausbauen und an sich binden können.

Ob die Doha-Runde am Ende wirklich scheitert oder doch zu einem Abschluss kommt – die WTO wird auch in Zukunft weiter existieren. Und die bisherigen Bemühungen für den Aufbau eines globalen Handelssystems waren bei weitem nicht vergebens. Die Existenz der WTO hat nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise einen protektionistischen Wettlauf und Handelskriege verhindert. Und auch wenn der Verhandlungsmotor stockt, das WTO-Streitschlichtungsverfahren ist ein großer Erfolg. Die Hoffnung bleibt, dass Azevêdo, mit dem Vertrauen der Entwicklungsländer im Rücken, eine Brücke zwischen den alten WTO-Mächten und den aufstrebenden Schwellenländern schlagen und ein positives Momentum für eine Verbesserung des Regelwerks für den Welthandel erzeugen kann.

Über die Autorin

Brandi, Clara

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