Quo vadis Ozeankompetenz?

Erkenntnisse aus dem ersten Jahr der UN-Dekade für Ozeanforschung

Erkenntnisse aus dem ersten Jahr der UN-Dekade für Ozeanforschung

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Schoderer, Mirja / Ramona Hägele
Die aktuelle Kolumne (2022)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 19.09.2022

Bonn, 19.09.2022. Der Ozean ist entscheidend für das Überleben der Menschheit: u.a. deckt er einen signifikanten Anteil des Nahrungsbedarfs von 3,5 Milliarden Menschen und nimmt 30 % aller Kohlendioxidemissionen sowie 90 % der durch diese Emissionen erzeugten zusätzlichen Wärme auf. Seine nachhaltige Bewirtschaftung ist daher eine essentielle und dringende Herausforderung. Dieser zu begegnen erfordert eine erhebliche Steigerung der Wissensproduktion, aber auch eine Veränderung der Art und Weise, wie Wissen zur Verfügung gestellt wird.

Wie in vielen Veranstaltungen der UN-Dekade für Ozeanforschung und auf der UN-Ozeankonferenz in Lissabon zur Sprache kam, hat die Meeresforschung ein Problem mit Zugänglichkeit – Zugänglichkeit für andere Wissenschaftler:innen, aber auch für Laien und politische Entscheidungsträger:innen, und insbesondere in Bezug auf nicht-wissenschaftliche Wissenssysteme. Viele Menschen sind sich der Bedeutung des Ozeans nicht bewusst und haben kaum die Möglichkeit, direkt mit ihm zu interagieren. Entsprechend ist der Aufbau einer so genannten "Meereskompetenz" oder „ocean literacy“ - d. h. einer Wertschätzung und eines Verständnisses für den Ozean – eines der Kernziele der UN-Ozeandekade.

Meereskompetenz zu erlangen wird jedoch durch mehrere Faktoren erschwert. Erstens arbeitet die Meereswissenschaft mit diversen Parameter und großen Datenmengen, die interpretiert und in Formate übersetzt werden müssen, die auch für Laien verständlich sind. Es gibt zwar spezielle Produkte, die wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln, wie z. B. der IPCC-Bericht oder das World Ocean Assessment, aber diese beantworten nicht unbedingt spezifische Fragen, die Bürger:innen oder Entscheidungsträger:innen beschäftigen. Die Gestaltung und Wahrnehmung von Kommunikationsmöglichkeiten (z.B. Tage der offenen Tür, gezielte Politikberatung) erfordern Zeit und Aufwand, die bei akademischen Leistungsbewertungen jedoch nicht unbedingt honoriert werden.

Zweitens ist der Ozean zwar ein Allgemeingut, von dem die gesamte Menschheit profitiert, doch die Infrastruktur für Meeresforschung (z.B. Forschungsschiffe) ist weltweit sehr ungleich verteilt, so dass viele Menschen nicht selbst als Forschende tätig werden können. Bisher haben administrative und politische Hürden das Bündeln nationaler Mittel verhindert, um eine nachhaltige, weltweit gemeinsam genutzte Forschungsinfrastruktur aufzubauen – wie etwa die Internationale Raumstation oder das internationale Wetterbeobachtungssystem sie darstellen. Abgesehen von einer gerechteren Verteilung der Forschungsmöglichkeiten würde dieses System konsistente und global umfassende Messungen fördern. Diese sind nötig, um z.B. Kipppunkte in der Kohlenstoffspeicherkapazität des Ozeans zu identifizieren und zu beurteilen, wie nahe die Menschheit daran ist, sie zu überschreiten. Während nahezu alle Forschenden bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, erfordert ein effizienter Datenaustausch das Vorlegen von Metainformationen, z.B. darüber, wie Daten gesammelt, bearbeitet usw. wurden. In vielen Forschungsprojekten wird Datenverwaltung jedoch nur unzureichend berücksichtigt, sodass für solche Arbeiten keine Mittel vorgesehen sind.

Auch außerhalb der Wissenschaft gibt es eine Fülle von Wissen, das z.B. auf (mündlichen) Überlieferungen, Kunstwerken, täglichen Beobachtungen und anderen Formen der Auseinandersetzung mit dem Ozean beruht. Die Meereswissenschaft erkennt zunehmend die Relevanz dieses Wissens für eine ganzheitliche Betrachtung des Ozeans und menschlicher Interaktionen mit dem Ozean an. Allerdings fällt es Forschenden oft schwer, anderen Wissenssystemen und Wissensträger:innen auf Augenhöhe zu begegnen, da dieses Wissen häufig in traditionelle oder indigene Wissenssysteme und Praktiken eingebettet ist, welche auf anderen Annahmen über Mensch und Natur beruhen als die Naturwissenschaft. Gegenseitiges Verständnis und einen gleichberechtigen Dialog aufzubauen erfordert Zeit, häufige Interaktion und Ergebnisoffenheit, die oft schwer in Forschungsprojekte zu integrieren ist. Gleichzeitig bietet die Auseinandersetzung mit anderen Zugängen zum Ozean die Möglichkeit, Meeresforschung gemeinsam mit denjenigen zu gestalten, die ihre Endnutzer sein sollen und somit die Relevanz der Ergebnisse sicherzustellen. 

Die Ko-Produktion von Wissen ist ein wichtiger Schritt, um die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie Wissenschaft und Politik zu schließen, und somit entscheidend, um „ocean literacy“ zu fördern. Auf der UN-Ozeankonferenz betonten Wissenschaftler:innen und Entscheidungsträger:innen entsprechend die dringende Notwendigkeit, Wissen gemeinsam zu produzieren. Um Ko-Produktion tatsächlich umzusetzen, sind jedoch strukturelle Veränderungen des internationalen Wissenschaftssystems nötig, damit z. B. Forschungsfragen und –methoden gemeinsam mit Stakeholdern festgelegt und Projekte finanziert werden können, deren Ergebnisse nicht im Voraus bereits abgrenzbar sind. Ob, inwieweit und wie schnell solche Veränderungen stattfinden, bleibt abzuwarten.

Über die Autor*innen

Schoderer, Mirja

Umweltwissenschaft

Schoderer

Hägele, Ramona

Politikwissenschaftlerin

Hägele

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