Benachteiligte Gruppen in der Pandemie

So reagieren wir auf COVID-19 inklusiv und gemeinwohlorientiert

So reagieren wir auf COVID-19 inklusiv und gemeinwohlorientiert

Download PDF 328 KB

Cordes, Andrea / Jacqueline Götze
Die aktuelle Kolumne (2020)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne vom 02.06.2020

Die COVID-19-Pandemie trifft uns alle. Gleichzeitig trifft sie jeden Menschen unterschiedlich stark. Überlastete Gesundheitssysteme, Ausgangsbeschränkungen, Arbeitslosigkeit und geschlossene Schulen führen zu Heraus- und Überforderungen. Die Folgen der Pandemie werden sowohl kurz- als auch langfristig spürbar sein. Doch gerade die längerfristigen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Effekte können derzeit nur geschätzt werden. Um Entscheidungen im Umgang mit der Pandemie zu treffen, die Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen helfen, ist es wichtig, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und alternative Maßnahmen abzuwägen. Entscheidungen im Umgang mit der Pandemie müssen inklusiv und gemeinwohlorientiert sein. Doch ob dieses Kriterium immer erfüllt wird, ist fraglich.

In Folge der COVID-19-Pandemie lassen sich in Bezug auf Gender in vielen Ländern folgende Tendenzen beobachten: während mehr Männer schwere Krankheitsverläufe zeigen und häufiger sterben, tragen Frauen die größere Last der Folgen der Pandemie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Frauen sind global betrachtet häufiger als Männer im informellen Sektor tätig und verlieren somit in der aktuellen Krise öfter ihre wirtschaftliche Grundlage. Es sind zudem im Durchschnitt mehr Frauen als Männer in systemrelevanten medizinischen oder Pflegeberufen tätig. Frauen erledigen mehr unbezahlte Care-Arbeit; sie sind mehrheitlich diejenigen, die derzeit die Betreuung der Kinder übernehmen. Während der COVID-19-Pandemie steigt außerdem die Bedrohung durch häusliche Gewalt, insbesondere für die schwächeren Familienmitglieder. Der UN-Generalsekretär äußert sich in diesem Zusammenhang auch besorgt zur Situation der LGBTI-Community in der Pandemie. All diese Faktoren legen Problemfelder offen, die bereits vor der Pandemie bestanden, die aber durch die Krise besonders sichtbar werden – und interessanter Weise ohne, dass eindeutige Unterschiede zwischen dem globalen Süden und globalen Norden zu erkennen sind.

So weist auch UN Women in einem kürzlich veröffentlichten Policy Brief eindrücklich darauf hin, dass aufgrund der Pandemie die Gefahr bestehe, dass sich positive Gleichstellungsdynamiken weltweit wieder umkehren und bestehende Ungleichheiten weiter verschärft werden könnten. Als Beispiel kann der globale Gender Pay Gap, der bei 16 Prozent (ungewichtet) liegt, angeführt werden. Dass in der Pandemie eher Frauen ihre Arbeit für die Kinderbetreuung niederlegen, beziehungsweise reduzieren, birgt die Gefahr der weiteren Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Sicherheit. Diese „Retraditionalisierungstendenzen“ können im globalen Süden wie im globalen Norden enorme Rückschritte für die Erreichung der Sustainable Development Goals (SDGs) bedeuten, insbesondere für die SDGs 1, 4, 5 und 10.

Die Perspektiven von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen fließen oftmals nicht ausreichend in öffentliche, fachliche Diskussionen und (politische) Entscheidungsprozesse ein, was auch aktuelle Diskussionsforen und Meinungsbilder zu Fragen der weltweiten Auswirkungen der Pandemie zeigen. Diese sind geprägt von allgemeinen medizinischen und wirtschaftlichen Diskussionen, jedoch gehen sie nur wenig auf die sozialen oder geschlechtsspezifischen Auswirkungen ein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Themen, die insbesondere die weibliche Bevölkerung sowie andere benachteiligte Gruppen betreffen, auf wenige Aspekte reduziert werden, die die Komplexität der Problemlage nicht adressieren.

Ein wichtiges Instrument für Forschung und evidenzbasierte Politikberatung ist dabei auch die Datenerhebung genderspezifischer Informationen. Dabei geht es zum Beispiel um Zeitaufwand für unbezahlte Care-Arbeit, Einkommensverhältnisse bei landwirtschaftlichen Flächen oder Frauen in Führungspositionen. Diese werden im Rahmen des Monitorings der SDGs, hier insbesondere SDG 5, vorausgesetzt, doch liegen diese oftmals nicht vor. In zwei Drittel der afrikanischen Länder sind beispielsweise nur unzureichend Daten zu unbezahlter Care-Arbeit verfügbar. Dabei sind diese jedoch unverzichtbar, um gute Maßnahmenpakete für Frauen und ihre Familien zu entwickeln. Solch fehlendes Wissen birgt das Risiko, dass Schlussfolgerungen nicht inklusiv getroffen werden können.

Ziel der 2030 Agenda ist es, gleichberechtigte, inklusive und resiliente Gesellschaften aufzubauen. Dieser gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt wird fundamental auch von der Rolle der Frauen, benachteiligter Gruppen und Minderheiten geprägt. Gleichheit, Inklusivität und Resilienz in der COVID-19-Pandemie und in einer Zeit danach kann nur erreicht werden, wenn diverse Perspektiven und eine umfassendere Datengrundlage in den Wissenstransfer und die Politikberatung eingebunden werden, um die Stimmen und Bedarfe aller im Sinne des Gemeinwohls in Betracht ziehen zu können. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) ist im Rahmen des Wissenstransfers als auch in seiner Beratung mit bemüht, genau diese diversen Stimmen einzubinden: unter anderem aus dem globalen Süden und dem globalen Norden, weibliche und männliche, junge und alte. Denn der Leitgedanke für uns alle sollte lauten: Wissen, das wir nicht kennen, sehen und hören, kann nicht in unsere Arbeit und unser Handeln einfließen.


Andrea Cordes ist die Gleichstellungsbeauftragte des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik und als Projektkoordinatorin im Forschungsprogramms Transformation politischer (Un-)Ordnung tätig.

Jacqueline Götze ist die stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte des Deutschen Institut für Enwicklungspolitik und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany.


Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.

Über die Autorin

Götze, Jacqueline

Politikwissenschaft

Götze

Weitere Expert*innen zu diesem Thema

Balasubramanian, Pooja

Sozioökonomie 

Brüntrup, Michael

Agrarökonomie 

Burchi, Francesco

Entwicklungsökonomie 

Christ, Simone

Sozialanthropologie 

Dippel, Beatrice

Komparatistik 

Faus Onbargi, Alexia

Politikwissenschaft 

Friesen, Ina

Politikwissenschaft 

Jaji, Rose

Anthropologie 

Koch, Svea

Sozialwissenschaft 

Malerba, Daniele

Ökonomie 

Mathis, Okka Lou

Politikwissenschaftlerin 

Mchowa, Chifundo

Entwicklungsökonomie 

Mudimu, George Tonderai

Agrarpolitische Ökonomie 

Nowack, Daniel

Politikwissenschaftler 

Roll, Michael

Soziologie 

Schwachula, Anna

Soziologie 

Sowa, Alina

Ökonomie 

Srigiri, Srinivasa Reddy

Agrarökonom 

Stöcker, Alexander

Ökonomie 

Vogel, Johanna

Kulturwirtschaft 

von Haaren, Paula

Entwicklungsökonomie 

Wehrmann, Dorothea

Soziologie 

Zintl, Tina

Politikwissenschaftlerin