Digitalisierung als Chance für kreative Destruktion

Wissenschaftliche Konferenzen brauchen eine Generalüberholung!

Wissenschaftliche Konferenzen brauchen eine Generalüberholung!

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Reiber, Tatjana / Anna Schwachula
Die aktuelle Kolumne (2020)

German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne vom 09.11.2020

Seit Beginn der COVID-Pandemie verlagern sich wissenschaftliche Veranstaltungen vermehrt in den digitalen Raum. Corona zwingt uns, virtuelles Neuland zu betreten. Angesichts der Klimakrise und des großen CO2-Fußabdrucks von Präsenzkonferenzen sollte das auch in Zukunft so bleiben. Die digitale Transformation müssen wir aber auch dazu nutzen, unsere Konferenzformate radikal zu ändern. Denn schon vor Corona waren sie keine guten Vorbilder: Frontalberieselung, PowerPoint-Schlachten und dominante Alleswisser*innen in Diskussionen werden auch im digitalen Raum nicht attraktiver. Darüber hinaus laufen sie ihrer eigentlichen Zielsetzung zuwider, Wissen auszutauschen, neues Wissen zu schaffen und Netzwerke zu bilden. Erfüllen Konferenzen diese Zwecke nicht, dann sind sie vergeudete Zeit. Das gilt für wissenschaftliche Veranstaltungen im physischen ebenso wie im digitalen Raum.

Wie kann man also wissenschaftliche Konferenzen und Treffen so digitalisieren, dass sich daraus ein sinnvolles „building back better“ ergibt? Es gilt, die spezifischen Herausforderungen des digitalen Raums zu meistern und gleichzeitig die Formate anregend, angemessen und inklusiv zu gestalten. Implizite Normen, die in der realen Welt eine reibungslose Kommunikation ermöglichen, müssen im Digitalen explizit erläutert werden: Wer spricht wann? Wie macht man sich bemerkbar? Verbale und nonverbale Rückmeldungen an Vortragende fehlen, wenn Kameras und Mikrophone ausgeschaltet sind. Ob der Input interessant ist, ob das Publikum eine Sichtweise teilt, ist für Sprechende somit schwer erkennbar. Gleichzeitig verführen digitale Formate dazu, nur kurz einzuschalten und nebenher anderes zu tun: Der digitale Raum ist unverbindlich. Um einer digitalen Fatigue entgegenzuwirken, braucht man kurze Einheiten, regelmäßige Pausen, Aktivierungsübungen wie Energizer und mehr Partizipationsmöglichkeiten für Teilnehmer*innen. Eine gute Veranstaltung braucht klare Ziele, für die man ein passendes Format entwickeln sollte. Geht es darum Kontakte zu knüpfen, Wissen auszutauschen, oder gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln? Für das Netzwerken ist es wichtig, dass Teilnehmer*innen sich in einer wertschätzenden Atmosphäre begegnen. In Kaffeepausen Kontakte zu knüpfen ist kein Selbstläufer und gerade für introvertierte Teilnehmer*innen eine Herausforderung. Besser ist es, thematische Gesprächsanlässe zu schaffen. Die Palette der Möglichkeiten ist breit: Speed dating mit vorgegebenen Fragen, eine digitale Pinnwand mit „Ich suche…“- und „Ich biete…“-Angeboten, Thementische, an denen sich Personen austauschen. Oft fällt es Menschen auch leichter, Kontakte aufzubauen, wenn sie etwas gemeinsam tun – beispielsweise gemeinsam ein Problem lösen.

Geht es um Wissensaustausch, zum Beispiel über Forschungsergebnisse, sind Panels, bei denen mehrere Papiere monoton präsentiert werden, ungeeignet. Wie wäre es als Alternative mit Kurzvorträgen, um Forschungsergebnisse in drei bis fünf Minuten zu pitchen? Wer dann mehr erfahren möchte, besucht eine vertiefende Gesprächsrunde. Zusätzlich kann man durch einen Preis für den anschaulichsten Vortrag (oder das beste Poster) Anreize schaffen, Ideen innovativ zu präsentieren.

Möchte man ein Forum für die Entwicklung von (Forschungs-)Projekten bieten, sollten Organisator*innen explizit dazu einladen, Ideen zu einem frühen Stadium vorzustellen. Organisator*innen können den Rahmen für einen inspirierenden Austausch schaffen. Das können Feedback-Regeln sein oder konkrete Fragen für das Publikum (welche Aspekte fanden Sie besonders hilfreich, wo sehen Sie das größte Potenzial, was hat Sie nicht überzeugt?). Ist das Ziel, Lösungen für konkrete Probleme zu entwickeln, sind praxisorientierte Workshops oder interaktive Formate wie zum Beispiel World Cafés gefragt.

Mangelnde Diversität und die Dominanz privilegierter Gruppen ist nicht nur aus Sicht derjenigen problematisch, die nicht zu Wort kommen. Mangelnde Inklusion verstärkt bestehende Wissens- und Machtasymmetrien. Für nachhaltigkeits-orientierte Wissenschaften, für die unterschiedliche normative und inhaltliche Perspektiven von zentraler Bedeutung sind, ist das ein Verlust.

Was aber ermutigt junge, weibliche, aus dem globalen Süden stammende oder introvertierte Personen, sich aktiv einzubringen? Eine Reflexionspause vor Diskussionen hilft, die Gedanken zu sortieren. Das verhindert, dass diejenigen sofort das Wort ergreifen, die – etwa aufgrund ihrer Seniorität – besonders schnell einen Kommentar formulieren können. Einer Studie zufolge ist es von Bedeutung, wem zuerst das Wort erteilt wird: Ist dies eine Frau, so ist die anschließende Beteiligung weitaus diverser. Zusätzlich bietet das Digitale hier auch Chancen. Digitale Tools wie Chats, Apps zur Sammlung von Fragen oder digitale Pinnwände erleichtern es Personen, die sich nicht gerne verbal äußern, sich einzubringen. Will man komplett neue Wege gehen, sind Barcamps, bei denen Teilnehmer*innen spontan Sitzungen einbringen, geeignet – auch um Hierarchien zu nivellieren.

Wissenschaftliche Konferenzen brauchen eine Generalüberholung. Für die Gestaltung attraktiver Austauschformate müssen wir ausgetretene Pfade verlassen und kreativ werden. Vielleicht ist hier die durch Corona bedingte Digitalisierung sogar nützlich, weil sie Raum für Innovation schafft. Nutzen wir die Gelegenheit, Konferenzen zu revolutionieren!

Über die Autor*innen

Reiber, Tatjana

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Reiber

Schwachula, Anna

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Schwachula

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